Guido Wünschmann & Daniel Sonnenburg

Gruppe Deutsche Börse

Sustainable Finance – was ist das für Sie?

Guido Wünschmann, Head of Berlin Office, Group Regulatory Strategy: Zunächst ist Sustainable Finance die Befähigung der Finanzwirtschaft, notwendige realwirtschaftliche Transformationsprozesse erfolgreich und zukunftsorientiert zu begleiten und zu finanzieren. Gleichzeitig muss sie aber selbst eine Transformation durchlaufen, um Finanzstabilität und individuelle Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten und zu verbessern. Die Gründe dafür können wir jeden Tag beobachten, sei es der fortschreitende Klimawandel oder die Covid-19-Pandemie.

Letztlich handelt es sich um tiefgreifende strukturelle Veränderungen – und anders als oft behauptet sind das für Unternehmen keine ideologischen Fragen, sondern es ist schlicht wirtschaftlich rational und strategisch gedacht. Denn je mehr Informationen ich über Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen in meiner Wertschöpfungskette habe, desto besser kann ich mein Unternehmen steuern und auch in der Zukunft über ein profitables Geschäftsmodell verfügen.

Was ist für Sie der Schlüssel für die erfolgreiche Weiterentwicklung der Sustainable Finance-Bewegung?

Daniel Sonnenburg, Government Relations & Political Affairs, Group Regulatory Strategy:
Der Umgang mit Komplexität. Nachhaltigkeit bezieht sich immer auf das gesamte System und unser Wirtschaftssystem und unsere Gesellschaft sind vielschichtig. Dadurch entstehen neben zusätzlichen Risiken auch unvermeidliche Zielkonflikte. Es ist eine große Herausforderung, Nachhaltigkeit vollumfänglich in die Kernprozesse von Finanzmarktakteuren zu integrieren, ESG-Risiken zu modellieren oder IT-Systeme anzupassen. Das wird nur mit einer interdisziplinären Herangehensweise sowie einer soliden Datenbasis gelingen.

Wünschmann: Die Komplexität spiegelt sich auch in den Rahmenbedingungen wider und darf nicht unterschätzt werden. Bei globalen Herausforderungen und in einem Mehrebenensystem wie der Europäischen Union oder auch der internationalen Staatengemeinschaft braucht es eine kohärente Abstimmung von Regelwerken und Vorgehensweisen. Politische Zielsetzungen und entsprechende Regulierung werden jedoch erst dann wirksam, wenn sie jemand umsetzt. Auf der Leitungsebene, insbesondere aber auch darunter. Kooperation und systematischer Wissensaufbau innerhalb und zwischen Finanz- und Realwirtschaft, den Aufsichts- und Regulierungsbehörden sowie der Gesellschaft insgesamt sind daher entscheidender denn je.

Welche Rolle spielt hier die Deutsche Börse?

Wünschmann: Gleich mehrere. Wir sind nicht nur Marktinfrastruktur, sondern selbst börsennotiertes Unternehmen und ein Mitglied der Gesellschaft mit jeweils unterschiedlichen Anspruchsgruppen.

Zunächst gehört Transparenz zum Kerngeschäft der Gruppe Deutsche Börse und ist ein integraler Bestanteil eines funktionierenden Marktes. In Bezug auf Nachhaltigkeitsinformationen spielt der Markt selbst eine wichtige Rolle, es mangelt aber weiterhin an einer allgemein akzeptierten Definition. Hier kommen wieder Politik und Regulierung ins Spiel. Die EU ist die treibende Kraft hinsichtlich Harmonisierung und Standardisierung im Bereich Sustainable Finance, auch international. Diesen Prozess begleiten wir auf allen Ebenen im aktiven Dialog, schließlich agieren wir in einem stark regulierten Umfeld. Dabei geht es nicht nur um die Bereitstellung von Informationen, es geht darum, Märkte zu organisieren und Vertrauen zu schaffen. Nehmen wir zum Beispiel eine unserer Tochtergesellschaften, die European Energy Exchange: Diese spielt eine wesentliche Rolle beim europäischen Emissionshandel. Organisierte Märkte bedeuten zusätzlich auch immer ein verringertes systemisches Risiko, ein Plus an Finanzmarktstabilität.

Darauf aufbauend machen Finanzmärkte große Fortschritte bei der Integration von Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen in Preismechanismen. Investoren fragen immer stärker entscheidungsrelevante Informationen nach. Letztlich würden die realwirtschaftlichen Transformationsprozesse ohne Kapitalmärkte schwieriger, weniger effizient und signifikant teurer. Auch spielt bei Transformationsprozessen Innovation eine entscheidende Rolle, und die dafür notwendige Mobilisierung von Kapital findet primär am Kapitalmarkt statt.

Als einer der führenden Anbieter im Bereich von Nachhaltigkeitsdaten kommt ein weiterer wichtiger Baustein für die Rolle der Deutschen Börse hinzu. Diese Daten bilden das Fundament jeder Investitionsentscheidung, geben Auskunft über Risiken, Chancen sowie nachhaltigkeitsbezogene Wirkungen.

Sonnenburg: Unser Produkt- und Serviceportfolio ermöglicht darüber hinaus eine Kapitalallokation ganz im Sinne der Sustainable Development Goals oder des European Green Deals, beispielsweise mittels unserer ESG-Indizes. Auch erweitern wir als die führende und liquideste ESG-Derivatebörse weltweit die Möglichkeiten des Risikomanagements für unsere Kunden. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Preisbildung hier der Zukunft zugewandt ist, ein weiterer Pluspunkt für die Nachhaltigkeit und das effiziente Funktionieren des zugrundeliegenden Marktes.

Unsere Produktentwicklung findet dabei als Antwort auf Marktsignale und im Zusammenspiel mit unserem gesamten Ökosystem und seinen Akteuren statt. Hinter der Nachfrage stehen neben einem veränderten Investitionsverhalten meist regulatorische Entwicklungen. Das veranschaulicht noch einmal die Rolle einer Börse, welche mit allen Stakeholdern in Kontakt steht und diese zusammenbringt. Die Gruppe Deutsche Börse engagiert sich daher immer auch für das Gesamtsystem. Wir koordinieren beispielsweise das Projekt Sektorale Daten im Rahmen des TCFD Think Tanks des GSFCG und sind Mitglied in der Climate Disclosure Advisory Group der Sustainable Stock Exchanges Initiative der Vereinten Nationen. Ersteres bringt unterschiedliche Anwenderperspektiven auf Sustainable Finance in Finanz- und Realwirtschaft zusammen, zweitere hat die Erarbeitung global konsistenter Empfehlungen für Nachhaltigkeitsberichtserstattung durch börsennotierte Emittenten zum Ziel.

„Es ist die fortwährende Suche nach dem Mittelweg zwischen zu schwachen Vorgaben und einer Überregulierung, die mich fasziniert und antreibt. Schaffen wir es, auf diesem Mittelweg zu bleiben, können wir die Dynamik der Kapitalmärkte für eine lebenswerte Zukunft nutzen, Risiken der Transformation hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft und Gesellschaft minimieren und eine demokratische Teilhabe an den vielfältigen Chancen in der Zukunft ermöglichen.“

Was ist ihr persönliches Ziel?

Wünschmann: Als Leiter der Berliner Repräsentanz der Gruppe Deutsche Börse habe ich natürlich einen Fokus auf die politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen. Es ist die fortwährende Suche nach dem Mittelweg zwischen zu schwachen Vorgaben und einer Überregulierung, die mich fasziniert und antreibt. Schaffen wir es, auf diesem Mittelweg zu bleiben, können wir die Dynamik der Kapitalmärkte für eine lebenswerte Zukunft nutzen, Risiken der Transformation hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft und Gesellschaft minimieren und eine demokratische Teilhabe an den vielfältigen Chancen in der Zukunft ermöglichen.

Sonnenburg: Wir können als Gruppe Deutsche Börse einen wichtigen Beitrag leisten zu einem klimaneutralen, sozial gerechten und gleichzeitig wettbewerbsfähigen Europa als Vorbild auch für andere in der Welt. Dazu bedarf es angesichts seiner besonderen Wirtschaftsstruktur und seiner ausgeprägten industriellen Basis auch einer starken Stimme Deutschlands als Teil der Europäischen Union.